DER STAAT & ICH:
„L’Etat Et Moi!“ ist nicht nur ein genialer Titel für ein Album, sondern eine grandiose Geste, die zugleich zitiert und variiert und damit das semantische Feld aufsprengt: „Der Staat & ich“ klingt auf Französisch (fast) wie das berüchtigte „Der Staat bin ich“ (L’Etat c’est moi!“) des sogenannten Sonnenkönigs Ludwig XIV., dem Inbegriff von Absolutismus und Gottesgnadentums. Oder wie man nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts vielleicht sagen würde: des Personenkultes. Zugleich ist es eine Band, die diesen Satz zitiert: die Hamburger Band Blumfeld mit ihrem Sänger Jochen Distelmeyer. Der Bandname selbst ist wiederum ein literarisches Zitat, der eine fiktive Figur von Franz Kafka beschwört: „Blumfeld, ein älterer Junggeselle…“
„Der Staat & ich“ verweist also auf ein Verhältnis – keine Identifizierung wie in dem königlichen Ausspruch, sondern eine Verbindung, die durch das „und“ geschaffen und zugleich in Frage gestellt wird: der „Staat“ & „ich“ als zwei unterschiedene, doch miteinander verwickelte Einheiten. Mich erinnerte die Formulierung sofort an berüchtigte Gerichtsverfahren: „Der Staat gegen XYZ“ – in der BRD z.B. gegen die Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF). Die Ereignisse des „Deutschen Herbstes“ 1977 bedeuteten einen tiefen Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte. Es folgte eine Zeit der Neuorientierung: die Neuen Sozialen Bewegungen, die Gründung der Partei Die Grünen und der taz als linker Tageszeitung, die Entstehung der Autonomen, als auch der Westberliner Tunix-Kongress, bei dem Foucault auftrat und das Konzept der „Politik der ersten Person“ – sie alle stehen in Zusammenhang mit dem Showdown zwischen „Staat“ und „Guerilla“.
Das ICH, das Distelmeyer besingt, ist ein lyrisches ICH in dieser Tradition – eine Tradition, die weit zurückreicht, mindestens bis zu Schiller und dem „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ (Hegel, Hölderlin, Schelling), bis sie vom französischen Philosophen Jacques Rancière wieder aufgenommen wurde im Konzept der „ästhetischen Revolution“. In dieser Breite ist das Phänomen zu verorten, das ich im Folgenden kurz beschreiben möchte: den Kunst-Staat.
Fast 25 Jahre lang, von 1993 bis 2017 erinnerte diese Messingtafel im Foyer vor dem Roten Salon der Berliner Volksbühne an jene drei Tage im Oktober, in dem das Kollektiv NSK (Neue Slowenische Kunst) die Volksbühne zur Dependance des NSK-Staates gemacht hatte, eines grenzenlosen, weil nichtterritorialen Kunst-Staates. Nach dem tumultartigen Ende der Ära Castorf war sie plötzlich verschwunden. Ein nicht namentlich bekannter Mitarbeiter hatte sie still und heimlich entfernt – so wie Frank Castorf den Schriftzug OST vom Dach des Hauses hatte demontieren lassen. Selbst die Skulptur des Räuberrades auf dem Rosa Luxemburg Platz war auf einmal weg. Die Übergabe des Hauses an den belgischen Kunstkurator Chris Dercon wurde begleitet von einem regelrechten „Kulturkampf“. Es folgte eine vierjährige Interimsphase, bis der Autor und Regisseur René Pollesch, der seit zwanzig Jahren an diesem Haus gearbeitet hatte, zum neuen Intendanten berufen wurde. Am 3. Oktober 2021 war die Tafel wieder da. All die Jahre lang hatte der ehemalige Chefdramaturg Carl Hegemann sie aufbewahrt. Der 3. Oktober als „Tag der Einheit“ schien der geeignete Tag zu sein, die Tafel an seinem angestammten Platz zurückzubringen im Rahmen eines Happenings (STAATSAKT) mit Ivan Novak (LAIBACH/NSK), Carl Hegemann und René Pollesch:
Der 3. Oktober war nicht nur der Tag, an dem im Jahr 1990 die 2 plus 4 Verträge unterschrieben wurden, die zur sog. Wiedervereinigung führten, sondern an demselben Tag wurde im Jahr 1929 das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen in das Königreich Jugoslawien umbenannt durch eine neue Verfassung. Nun überlebte der „jugoslawische Traum“ den Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus nicht lange. 1992 zerfiel die Bundesrepublik Jugoslawien in verschiedene Staaten. Der NSK gründete sich in dem Augenblick, als Slowenien unabhängig wurde – nach eigener Aussage, um „die Utopien am Leben zu erhalten“. Eine der Hauptgruppen des NSK ist die Band LAIBACH aus Ljubljana, berüchtigt für ihre Cover-Versionen westlicher Pop-Songs wie „One Vision“ von Queen, denen sie durch eine fast wörtliche deutsche Übersetzung einen totalitären Sound unterjubelten:
Ein Mensch, ein Ziel und eine Weisung
Ein Herz, ein Geist, nur eine Losung
Ein Brennen der Glut
Ein Gott, ein Leitbild
Ein Fleisch, ein Blut
Ein wahrer Glaube
Ein Ruf, ein Traum,
Ein starker Wille
Nicht Neid, nicht Streit
Nur die Begeisterung
Die ganze Nacht
Feiern wir Einigung
(LAIBACH: Geburt einer Nation)
Während die ästhetische Strategie des Kollektivs international als bestes Beispiel einer „subversiven Affirmation“ oder „Über-Identifizierung“ gefeiert wurde, sahen sie sich zu Hause mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre provokatorischen Aktionen hätten als „Katalysatoren“ des Zerfalls gedient, ihre Musik als Soundtrack zum Bürgerkrieg. Doch schon Ende der 1990er Jahre trat die Band im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten des „Europäischen Kulturmonats“ in Ljubljana auf und kurz darauf im slowenischen Pavillon bei der EXPO 2000 in Hannover. Mittlerweile gilt LAIBACH als Export-Schlager. 2015 waren sie die erste Band, die sowohl in Nord- als auch Südkorea ein Konzert gab.
Auch die Idee des NSK-Staates hat in der Zwischenzeit ein Eigenleben angenommen- und einige Nachahmer*innen gefunden. Unter ihnen den deutschen Film- und Theaterregisseur Christoph Schlingensief, der den Bundestagswahlkampf 1998 durch die Gründung seiner Partei CHANCE 2000 aufgemischt hatte. Nachdem er sämtliche Register einer Parteientwicklung im Schnelldurchgang durchexerziert hatte (Spaltung, Pleite, usw.), verkündete er am 3. Oktober 1998 beim „Abschied von Deutschland“ im HKW (Haus der Kulturen der Welt) die Gründung des CHANCE STAATES. Wie der NSK-Staat sollte er keine Grenzen besitzen, da er über kein Territorium verfüge, stellte aber dennoch Pässe aus. Die Idee war recht kurzlebig: Als in Basel genau in dem Moment, als in Schlingensiefs Film eine Filmrolle brannte im Saal ein Feuer ausbrach, beendete er dieses Kapitel und widmete sich in Zukunft ohne Staatsidee im Kopf dem Wagnerschen Gesamtkunstwerk.
Der Staat jedoch – so wie die Partei – existierten weiter: im Untergrund. Zumindest für die Partei gibt es einen simplen Grund: Ein solches Gebilde, ist es erst einmal gegründet, lässt sich nicht so leicht wieder auflösen. Zumal die meisten Mitglieder ihre Unterschrift auf einem jener bunten Abende gegeben hatten, die Schlingensief im Frühjahr 1998 im Prater organisiert hatte mit der Zirkusfamilie Sperlich (Wahlkampfzirkus). Ich muss es wissen, ich bin ihr Eigentümer: Für 1 € habe ich die Partei erworben (zumindest in der Erinnerung – in Wirklichkeit war der Euro noch gar nicht eingeführt). Für den anschließenden Landtagswahlkampf in Hessen blieb mir nur ein einziger Mitstreiter (Hans-Jürgen Wacker). Zu sagen, wir seien glorreich gescheitert wäre untertrieben – die CDU gelang es, die Stimmung zu ihren Gunsten zu drehen durch eine Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Das wäre der Moment gewesen, die Partei Partei sein zu lassen und sich nur noch auf den STAAT zu konzentrieren. Denn überall, wo mehr als zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist er mitten unter uns! Das zumindest war die Interpretation von Carl Hegemann, der den STAAT immer als christliche Häresie betrachtet hatte: „no kingdom is bigger than the kingdom of GOD and there is no bigger State than the State of non-existence – it’s a STATE OF MIND“ wie er 23 Jahre später im Zoom-Gespräch mit Ivan Novak sagte: Der STAAT ist natürlich der ZUSTAND. Und das war es, was wir (ohne es zu wissen) in jener Zeit gefeiert haben Nacht für Nacht – den ZUSTAND, dem Rainald Goetz in seinem Roman RAVE ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Aus dem STAAT, dem er in den späten 1970er gegenüberstand als einsames ICH war der ZUSTAND geworden, den man gemeinsam feierte: „ZUSTAND!“ rief man sich lachend zu beim Tanzen und die anderen rissen die Arme in die Luft und brüllten im Chor: „ZUSTAND!!!“ Die Parole, der Code, die Antwort auf – wie war nochmal die Frage? Wir hatten sie vergessen, weggestoßen wie eine unnütz gewordene Leiter … ZUSTAND 2000:
Nur die Begeisterung
Die ganze Nacht
…
P.S: „We will never stop living this way!“ verkündeten wir damals – auf T-Shirts und im RAVE Roman – wieder und wieder, vor allem nach dem 11.09.2001, als es hieß, nun sei die Partei aber vorbei, sorry: die Party. Doch die Wahrheit ist: die Party wird nie zu Ende gehen, sie wird immer ein Teil von unserem Leben sein – auch wenn wir selbst nicht mehr teilnehmen. Denn das ist es, was die Party mit der Partei teilt: dass sie ein „Teil“ ist, kein Ganzes. Wissen wir doch eines ganz genau: „Das Ganze ist das Unwahre!“ Ein Ein-Parteienstaat ergibt genauso wenig Sinn wie eine Dauerparty: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ flüsterten wir uns nachts grinsend zu. Und manchmal bauten wir uns voreinander auf und riefen in die Dunkelheit: „Schau mir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“ Frankfurter Schule zu Beginn des neuen Jahrtausends – … (tbc)