Das performative Element bei HGich.T und Deichkind

Subversion oder affirmatives Sauf-Dada?

Bild HGich.T 2017

Im Pop ist die Kunst oft bloß Schimpfwort, zeugt diese doch von zweiter Ebene, von Kalkuliertheit oder einfach von der verschnarchten Erwachsenenwelt öder Galerien. Zwei sehr unterschiedliche Kollektive, die sich mit dem Kunstbegriff anlegen, sind HGich.T und Deichkind aus Hamburg. Doch gerade dort, wo die Popkultur besonders authentisch und rauschhaft daherkommen möchte, ist ihr das performative Element der Kunst am Nächsten.

Es ist noch zu früh für das Konzert. Dennoch sind wir schon beim Venue, unglückliches Timing, kann passieren. Nach und nach wird sich der Club in Köln Ehrenfeld schon füllen. Der Handlungsort das Sonic Ballroom ist dabei ein legendärer Punkrockschuppen, der aus jeder Ritze die Erinnerungen an zigtausend Litern Party ausschwitzt. Ikonisch die Silhoutte der Kult-Band The Ramones, die sich an der Rückwand der Bühne befindet. Doch heute, vor diesem Konzert der Band HGich.T, kann man die vier mittlerweile verstorbenen New Yorker Ur-Punks nicht erkennen.

Die Bühne sieht sich eingesponnen in Wollfäden; Pappschilder, Staffeleien, seltsames Gerümpel steht herum. Nun ja, der Act des heutigen Abends, HGich.T, ist ein äußerst verhaltensauffälliges Kollektiv, das über virale Gaga-Videos bekannt wurde. Dass diese Gruppe bei einem Live-Konzert mit Gadgets arbeitet, liegt also nicht so fern. Aber das hier ist mehr als eine Kiste wilder Requisiten. Die Wollfäden sind durch den ganzen Konzertraum gespannt. So dicht, dass sie teilweise die Sicht nehmen. Um die Bar zu erreichen, muss man drüber steigen oder sich drunter durchwurschteln. Im Dämmerlicht hat diese Inszenierung etwas von „Aliens – Die Rückkehr“, als eine Rettungsmission in eine leere Kolonie gerät, in der sich alle Gänge eingesponnen finden von düsterem Alien-Bakelit.

Diese Assoziation passt vermutlich auch deshalb, weil von diesem geschmückten Ort hier ebenfalls eine gewisse Unheilsahnung ausgeht. Was soll, was wird hier gleich geschehen? Der Raum füllt sich. Ungelenk steigen die Gäste über die Stolperfallen, bücken und wundern sich. Die Show ist restlos ausverkauft, irgendwann platzt der kleine Laden mit den dichtgedrängten Menschen aus allen Nähten – und dazwischen verlaufen die Wollfäden. Das Licht geht aus. Jetzt geht’s los. Bloß was eigentlich?

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Hunderte Kilometer weiter im Osten. Ein ähnlicher Ansatz, eine andere Band, eine weit größere Halle. Deichkind spielen in Dresden. Das Hamburger Kollektiv mit den Pyramidenköpfen lässt wie HGich.T nicht klar erkennen, wer (und wie viele) Musiker*innen zu ihrem Ensemble gehören. Das Konzert funktioniert also nicht als Erfüllung einer herbeigesehnten Begegnung von Popstar und Publikum. Man wartet hier nicht auf ein oder mehrere vertraute Gesichter, man wartet hier auf ein Erlebnis. Die Halle ist noch kahl, alles an Zinober wird von der Bühne ausgehen müssen. Doch ganz stimmt das nicht. Viele Grüppchen haben selbstgebastelte Bier-Utensilien dabei, Helme mit Schläuchen, oder sehen sich bizarr verkleidet. Alles lässt sich unter dem Mitmach-Thema Alkohol subsumieren. Die funktionale Halle zahlt sonst allerdings wenig Gestaltung in die spürbare Erwartung hier ein. Wo der eingesponnene Sonic Ballroom bereits von Alternativkultur erzählt, stellt die Halle in Dresden klar, dass die Magie bitteschön von der Band geliefert wird, morgen kommen dann schon wieder Max Giesinger oder Doro Pesch. Alles muss sich heute hinter dem weißen Vorhang befinden, den man vor der Bühne gespannt sieht. Plötzlich ertönen Nebelhörner, der Bass-Sound dringt tief in die ohnehin bereits aufgekratzte Menschenmenge ein: „Hört ihr die Signale?“, Stroboskop lässt die Dreiecksköpfe hinter dem Stoff riesig erscheinen, die Schatten der Protagonisten zeichnen sich immer deutlicher ab. Die Musik wird lauter und unerbittlicher. Alles flackert, alles tobt.

Und dann … dann fällt der Vorhang.

Bild HGich.T 2018

Bevor diese zwei so unterschiedlichen Abende weiter erzählt werden, sollen aber beide Kollektive genauer Beschreibung finden:

HGich.T stammen aus Hamburg und haben im Kontext der dortigen Hochschule für bildende Künste bereits Ende der Neunziger Jahre zusammengefunden, populär wurden sie im aufkommenden YouTube-Zeitalter über sich virale verbreitende, verstörende Musikclips. Die sperrige Buchstabenkombination des Namens lässt sich auffächern in: „Heute geh ich tot“. Wer genau zu der Gruppierung rund um die zwei Kern-Akteure DJ Hundefriedhof (aka Sascha Schreibvogel) und Anna-Maria Kaiser (Björn Schirmacher) gehört, ist genauso unklar, oder sagen wir besser, fluide wie die Anzahl. Zum wiederkehrenden Ensemble gehört unter anderen Dietrich Kuhlbrodt. Der 1932 geborene Kuhlbrodt ist Autor und Oberstaatsanwalt, wurde aber vor allem durch Beteiligung in diversen Filmen Christoph Schlingensiefs bekannt.

Hgich.T haben sechs Alben veröffentlicht (Stand 02/2022).

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Die Biographie von den ebenfalls aus Hamburg stammenden Deichkind erscheint gegen die diversen Leerstellen HGich.Ts weit verbindlicher: 1997 gegründet von drei Freunden als konventioneller HipHop-Act mit deutschen Texten. In den Nuller Jahren führt eine ästhetische Sinnkrise zur kompletten Neuaufstellung. Deichkind verschwinden hinter Masken und Kostümen und versuchen sich als subversive Partyband. Der immense Erfolg der neu eingezogenen Ebenen überrascht und beflügelt die veränderte Besetzung, Deichkind-Konzerte werden fortan zu vulgär-hedonistischen Happenings mit aufwändigen Choreos und Elementen, die die Schwelle zwischen Bühne und Publikum möglichst spektakulär niederzuwalzen suchen. Sieben Deichkind-Alben sind bis jetzt erschienen, „Wer sagt denn das?“, die jüngste, datiert dabei auf 2019.

 

Köln, der Beat setzt ein. Eigentlich eine gängige Rockkonzert-Praxis, ein Ritual, das Publikum und Band auf die Piste schickt. Bei HGich.T allerdings werden tragende Säulen des Seriellen eingerissen. Auffälligster Punkt ist, dass sich auf der vollgestellten Bühne selbst eigentlich gar nichts abspielt. Möglicherweise steht da irgendjemand an einem Keyboard oder Sequencer und sorgt dafür, dass ein monotoner Beat abgespielt wird. Weitere Instrumente? Fehlanzeige. Dennoch könnte die Aufregung im Raum kaum größer sein. Ein Typ mit irrem Blick, dessen Gesicht man nicht von den ikonischen Videos kennt (Björn Schirmacher), bahnt sich den Weg durch die Menge, er schreit, jodelt, grummelt, wiederholt immer wieder Fetzen eines der bekanntesten Stücke der Band in ein Mikro: „Hauptschuhle!“ Auf seiner Stirn stehen Zahlen. Eine Telefonnummer? Jetzt tauchen auch andere Figuren der Band im Zuschauerraum auf. „Die schöne Maike“ zum Beispiel, sie umarmt Besucher*innen, der Typ mit der Warnweste aus millionenfach geklickten Clips wie „Die affengeile Klopapiernummer“ oder „Tutenchamun“ sitzt dagegen teilnahmslos auf einem Barhocker, dennoch ist er nassgeschwitzt. Was zur Hölle geschieht hier?

 

Auch in Dresden hat der Beat eingesetzt und dabei das Adrenalin aller mitgerissen. Wenngleich hier das kollektive Ausflippen von deutlich weniger Verwirrung unterhöhlt scheint. Es geht sichtbar mehr ums Gemeinsame. Deichkinds Performance ist zwar wie die von HGich.T auf ein Gegenüber in Form des Publikums angewiesen, versucht aber eher die Grenzen zu verschieben, den Möglichkeitsraum der Beteiligten zu erweitern, als die Regeln komplett zu ändern. Auf der Bühne sieht man die anonyme Band agieren, teilweise mit Bewegungsabläufen von der Präzision einer Boyband. Zu jedem Stück gehören Choreographien und Accessoires, die wilde Veranstaltung folgt, auch wenn es mitunter nicht den Eindruck macht, vorgegebenen Abläufen. Bei Deichkind-Konzerten stößt man auf eine feste Dramaturgie unter dem Mantel der Anarchie. Es geht hier also vor allem um die Grenzbereiche, um das „wie weit können wir gehen?“ Um diesem Bestreben Vorschub zu leisten, sollen mögliche Hemmungen niedergetrunken werden. Deichkind haben bei Live-Auftritten mitunter eine Heimwerker-Apperatur dabei, die sie eingermaßen selbsterklärend „Die Bierzitze“ nennen. Der Rausch fungiert als Katalysator, das lässt sich hier vor Ort keiner zweimal sagen. Kaum jemand wirkt in dieser Halle mehr fahrtüchtig, alle sind – auch ein Kollektiverlebnis – ziemlich besoffen. Nun schiebt sich ein Bandmitglied in einem Schlauchboot über die Köpfe der Besucher, Bier schäumt, die Situation gerät an die Grenze ihrer Kontrollierbarkeit, das angestrebte Plateau dieses Happenings ist erreicht.

Bild Deichkind Instagram

Beiden Events geht es darum, auf performative Weise eingeübte Konzertrituale aufzuzeigen und wenn möglich zu sprengen. Man kann die Shows als Kommentare auf formatierte Unterhaltungskultur lesen. Sowohl Deichkind als auch HGich.T beziehen sich dabei allerdings nicht auf einen Kunstbegriff sondern auf offensiv ausgestellte Stupidität, auf die letztgültige Verneinung. Dieses „ich bin zu doof (oder zu breit) für eure Welt“ besitzt eine große Kraft in ihrer Dialogverweigerung. Deichkind gerieren sich dabei als hedonistische wie destruktive Wirkungstrinker und kündigen so gesellschaftliche Werte wie Maßhalten und Selbsterhalt auf. Bei HGich.T unterläuft man die Erwartungen jener Gesellschaft, indem in Wort und Bild eine beispiellose Selbst-Debilisierung vorgenommen wird.

Letztlich trifft man so auf die kulturelle Aneignung der „Art Brut“, denn beide Acts sind natürlich mitnichten nicht so einfältig, wie sie sich inszenieren.

Um die Performanz und die eigene Kunst dem Publikum bestmöglich zu verabreichen, muss sie dabei so unsichtbar wie möglich agieren. Denn im Pop- gelten andere Regeln als im Kunstbetrieb. Die Verbindung mit Tanztheater bei Deichkind ist für die Fanwirkung genauso kontraproduktiv wie das Entlarven HGich.Ts als Künstlerkollektiv. Nicht umsonst führt die Gruppe einen Song in ihrem Repertoire mit dem Titel „Künstlerschweine (ich brech euch die Beine)“.

Dabei stecken in diesem Projekt weit viel mehr Kunstverweise als im Gesamtwerk musealer Feuilleton-Songwriter wie Jochen Distelmeyer (Blumfeld). Die zufällige Zweckentfremdung von Gegenständen in ihren Videos verweist beispielsweise auf Künstler wie Marcel Duchamp, das Ballaballa-Blabla der Texte besitzt starke Bezüge auf den Dadaismus und die Gruppenperformances ihrer Konzerte haben viel von der Happeningkultur des Fluxus. Noch etwas vergessen? Ja, die Wiener Aktionisten, die sich bei ihren Veranstaltungen gern selbst bemalten und auch vor Selbstverletzung nicht Halt machten.

Das Konzert HGIch.Ts jedenfalls endet damit, dass konsequent kein Song gespielt wurde, nur dieser Beat-Teppich und immer wieder „Hauptschuhle“. Der Sänger mit der Telefonnummer auf der Stirn blutet zum Schluss aus der Nase.

Was genau passiert ist, ist unklar.

Bild Hgich.T 2016

Die Kollektive haben ganze Arbeit geleistet.

Schließlich sind Unklarheiten und Entgrenzung Dinge, die sich kaum werblich nutzen lassen und sich der allumfassenden Warenförmigkeit entziehen. Ein wichtiger Teil des Selbstverständnisses beider Acts. Wie kann man durch exzessiven Kontrollverlust die Kontrolle innerhalb der Kulturindustrie zurückerlangen?

Das Popkonzert als vergängliche Kunstperformance ist sowohl bei Deichkind als auch HGich.T Teil einer Strategie, sich vor jeder Vereinnahmung von Außen zu schützen. Und genau davon geht dann letztlich auch ihr Reiz aus.

Pop und Subversion mögen sich per se ausschließen. In diesen Kollektiven allerdings sind sie sich nah wie sonst nirgends.