Sun Ra

Afrofuturismus und interplanetare Performances

Sun Ra and his Arkestra in London 2010 | Bildrechte Creative Commons Attribution 2.0 Generic

“When the World was in Darkness, Darkness is Ignorance.
 Along came Ra…”

– Sun Ra Arkestra

Spätestens mit dem phänomenalen Kinoerfolg der Marvel-Comics-Verfilmung “Black Panther” (2018) erreichte die Ästhetik des Afrofuturismus den Mainstream. Ausstattung und Kostüme wurden bei den Oscarverleihungen ausgezeichnet. Dabei ließ sich Kostümdesignerin Ruth E. Carter vielseitig inspirieren und kombinierte Einflüsse moderner Designer*innen wie Issei Miyake, Donna Karen oder Yves Saint-Laurent mit traditioneller afrikanischer Kleidung der Massai, Tuareg, Zulu, Turkana und vielen mehr. Auf Märkten in Ghana und Südafrika kaufte sie Textilien, Schmuck und Accessoires ein, die dann als Vorbild für die eigenen Kreationen des fiktiven, futuristischen, ostafrikanischen Staates Wakanda dienten.
Produktionsdesignerin Hannah Beachler nahm sich ebenfalls die Wirklichkeit als Pate. So basierte zum Beispiel das Schriftbild Wakandas auf der nigerianischen Nsibidi-Bilderschrift.

Afrofuturismus ist eine Ästhetik, die mit einem Bein in der Vergangenheit steht und mit dem anderen in der Zukunft. Sie greift auf die afroamerikanischen Erfahrungen zurück und trägt dabei stets Themen wie “Fremdsein” und “Andersartigkeit” in sich und ist damit ein Teil der hauptsächlich durch den transatlantischen Sklavenhandel entstandenen afrikanischen Diaspora, malt aber gleichzeitig eine Utopie, die das Dystopische der Gegenwart entschleiert. 
Der Beginn des Afrofuturismus ist aber keineswegs in Science-Fiction-Comics oder Filmen zu suchen, sondern in der Musik. Als die Comicautoren Stan Lee und Jack Kirby 1966 den Black Panther alias King T’Challa als Figur schufen – einige Monate vor Entstehung der “Black Panther”-Miliz und Bürgerrechtsbewegung – sollen sie, so Andreas Bocholte im SPIEGEL, vom afrozentristischen Science-Fiction-Jazz von Sun Ra und seinem Arkestra beeinflusst gewesen sein.

 

Sun Ra 1973 | Bildrechte Public Domain

Sun Ra kann wohl mit gutem Gewissen als einer der Begründer*innen des Afrofuturismus benannt werden, dabei sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis die von ihm und anderen geschaffene Ästhetik einen Namen bekommen sollte. Erst Mitte der 90er Jahre schuf der Kulturkritiker Mark Dery in seinem Essay “Black To The Future”, benannt nach einer Single des Rappers Def Jef, den Begriff, um die Gemeinsamkeiten afroamerikanischer Kunst, Musik und Science-Fiction zu benennen.
Sun Ra indes kam bereits 1914 in Birmingham, Alabama, zur Welt: Einer Stadt, in der der Südstaaten-Rassismus noch lange grassierte. Einer Stadt, in der es einen extra Tag gab, an dem es Schwarzen erlaubt war, einzukaufen, damit diese nicht auf Weiße trafen. Einer Stadt mit der größten KKK-Mitgliedschaft in ganz Amerika. In dieser Stadt wurde Sun Ra geboren und hörte auf den Namen Herman Poole Blount. Bereits als Kind wurde er von seinen Geschwistern jedoch stets “Sonny” genannt.
Mit elf Jahren komponierte er erste Stücke am Klavier und bestritt als Teenager Auftritte mit Jazz und R&B-Bands. Fakten unterscheiden die Realität von der Fiktion, doch bei Sun Ra vermischen sich diese beiden Kontrahenten immer wieder. Um sein Geburtsdatum und seine Kindheit machte er stets ein Geheimnis und tatsächlich war beides lange Zeit unbekannt. Aber wo sollte auch jemand geboren sein, der von sich selbst behauptete vom Saturn zu stammen?!
1936 oder 1937 hatte Sonny auf dem College sein Erweckungserlebnis. Ein helles Licht umhüllte ihn und sein Körper veränderte sich. Es fühlte sich an, als könne er durch sich selbst hindurchschauen, und er stieg in die Lüfte, um auf den Planeten Saturn teleportiert zu werden. Er verließ seine menschliche Form, um dort auf Wesen zu treffen, die ihm eine Botschaft überbrachten: Die Welt sei im völligen Chaos, und er solle durch seine Musik sprechen, damit die Welt zuhöre.

Das war die Geschichte, die Sonny Anfang der 50er Jahre erzählte, nachdem er 1952 seinen Namen offiziell in Le Sony’r Ra änderte. Ra – wie der ägyptische Sonnengott. Dies war seine Wiedergeburt. Nein, es war seine Geburt! Zuvor fühlte er Traurigkeit, fühlte sich anders, fremd. Er wusste schon immer, dass er von woanders kam. Nun wusste er auch woher, er stammte: von einem anderen Planeten. Von da an führte er ein anderes, neues Leben. So sagte er laut “Space Is the Place – The Lives and Times of Sun Ra” von John F. Szwed:
“In meiner Musik schaffe ich Erlebnisse, die vor allem in Worten schwer auszudrücken sind. Ich habe das Gewohnte aufgegeben und mein bisheriges Leben hat für mich keine Bedeutung mehr. Ich erinnere mich nicht, wann ich geboren wurde. Ich habe es nie auswendig gelernt. Und genau das möchte ich allen beibringen: dass es wichtig ist, sich von der Verpflichtung zu befreien, geboren zu werden, denn diese Erfahrung hilft uns überhaupt nicht. Es ist wichtig für den Planeten, dass seine Bewohner nicht an eine Geburt glauben, denn wer geboren wird, muss sterben.”
So gründete Ra also sein Arkestra, ein Kofferwort bestehend aus Ark für Arche und Orchestra, dem Orchester.
Dem, so Ra in seinem afrofuturistischen Grundlagenwerk “Heller als die Sonne – Abenteuer in der Sonic Fiction” von Kodwo Eshun, “kosmischen Fahrzeug, das im Raum des Sounds herumreist”.

Am Steuer: Sun Ra – als Pilot, als Komponist und als Instrument vermischt er Big-Band-Sounds mit Free Jazz, meditative Grooves mit kakophoner Dissonanz. Musik aus der Zukunft, Musik aus anderen Welten: Drums, Bass, Bläser, Klavier und Synthesizer; Improvisationen auf Sonnenharfen und intergalaktischen Orgeln. Oder wie Eshun 1995 im Filmessay “Der letzte Engel der Geschichte” erklärte: “Das ist […] unmögliche Fantasiemusik. Gerade weil sie ein Fantasieprodukt ist, ist sie so kraftvoll. Sie spiegelt nicht die Vergangenheit wider, sie fantasiert die Zukunft.”

YouTube video

Sun Ras Texte widmeten sich dabei der Transzendenz, der Spiritualität und einer tieferen Verbindung mit dem Kosmos. Im Mittelpunkt stand Ras eigene Mythologie, von Eshun auch Mythowissenschaft oder Gegenmythologie genannt. Denn die afroamerikanische Geschichte, so der Historiker George M. James, sei nichts anderes als weiße Mythologie. Dieser gegenüber stand Ras revisionistische “Astro Black Mythology”: Mit einem Bein in der Vergangenheit, in Afrika, dem alten Ägypten. Ein Schwarzes Ägypten, ähnlich dem in George M. James‘ Buch “Stolen Legacy: Greek Philosophy is Stolen Egyptian Philosophy”, in dem dieser die Wiege der westlichen Zivilisation nach Afrika verlagerte. Ein Ägypten, dessen Bauwerke, Kultur und Philosophie uns noch heute beeindrucken und beschäftigen.
Mit dem anderen Bein stand Ras Mythologie in der Zukunft – interplanetarische Reisen durchs Weltall.
Ra erschuf damit eine alternative Vergangenheit sowie eine utopische Zukunft, die gerade durch das Auslassen der Gegenwart einen scharfen Kommentar zu dieser darstellte.

Das Weltraumzeitalter hatte bereits begonnen. 1957 kreiste mit Sputnik der erste Satellit um die Erde, 1961 fliegt mit Juri Gagarin, der erste Mensch ins All und 1969 landeten die Amerikaner auf dem Mond. Es sollte aber noch Jahre dauern, bis mit Guion Bluford 1983 der erste Afroamerikaner ins All flog. Das neue Jahrtausend wartete, und es schien, als wäre die schwarze Bevölkerung von dieser Zukunft wieder ausgeschlossen. Dem setzte Sun Ra seine eigene Zukunftsvision entgegen, die die Beschränkungen des menschlichen Daseins hinter sich lässt. Gleichzeitig sollte diese identifikationsstiftende Mythowissenschaft die Selbstwahrnehmung Schwarzer positiv beeinflussen, ihnen etwas geben, auf das sie stolz sein könnten.

Afroamerikaner waren schon immer eine Art Geheimgesellschaft innerhalb der größeren amerikanischen Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit eigener Musik und eigener Sprache. Diese geheime Geschichte könnte für Afroamerikaner im kommenden Weltraumzeitalter ein Gewinn sein: Eine glorreiche Vergangenheit großer Kulturen sowie eine hoffnungsvoll utopische Zukunft. Vielleicht auf einem anderen Planeten als der Erde, die Sun Ra unerträglich von Chaos und Verwirrung durchdrungen schien.
Arkestra-Posaunist Tyrone Hill gab gegenüber Graham Lock, Autor von “Blutopia: Visions of the Future and Revisions of the Past in the Work of Sun Ra”, an, dass er die Konzerte mit Ra selbst als geschichtsträchtig empfand: “Ich habe also das Gefühl, dass ich Teil von etwas bin, über das sie in Zukunft sprechen werden. Sun Ra ist ein wesentlicher Bestandteil der Weltgeschichte.” Oder wie Sun Ra es selbst einst formulierte: “That’s HIS-tory, you haven’t heard MY story.”

Auch auf der Bühne setzte das Arkestra diese Philosophie um. Ra selbst als Pharao mit goldenem Kopfschmuck und glitzerndem Gewand. Die Musiker*innen gehüllt in glitzernden Kleidern, panafrikanischen Tüchern, Gaze-Capes, goldenen Ketten sowie ägyptischen Masken und Tierköpfen. Oder wie es Michael J. Budds in seinem Buch “Jazz in the Sixities: The Expansion of Musical Resources and Techniques” formuliert: Saturnkleider, Galaxiekappen und kosmische Rosenkränze.
Es heißt die ersten Kostüme besorgte sich das Arkestra aus den Restbeständen eines Opernhauses. Hierbei kam es nie auf historische Korrektheit an. Die Kleider versprühten eine DIY-Ästhetik, waren mal uniform und dann wieder vielseitig verspielt. Mit aufgenähten und aufgemalten Planeten und Sternen.

YouTube video

Seit 2012 wurden Kostüme des Orchesters von der Berliner Kostümbildnerin Isa Mehnert gestaltet und verloren damit die Ästhetik des Selbstgemachten, sind aber nicht weniger beeindruckend. So arbeitete Mehnert u.a. für die Uncool Aufführungen in der Schweizer Gemeinde Poschiavo oder für die “100 Jahre Sun Ra”-Tournee 2014.
Durch den esoterischen Choreographen, Schriftsteller und Komponisten Georges I. Gurdjieff lernte Sun Ra, dass der Mensch schlicht aus Gewohnheit existiert, aber mit heiligen Liedern und Tänzen aus seinem Schlaf geweckt werden könnte. Dementsprechend trat das Arkestra oft mit Tänzer*innen auf, die sich ekstatisch zu seinen Polyrhythmen bewegten. Manchmal gerieten die Auftritte aber auch zu Multimedia-Performances, so zum Beispiel bei der Aufführung “The Magic Sun” in der Carnegie Hall in New York im April 1968, wo der Filmkünstler Phil Niblock Visuals schuf, die hinter das Arkestra projiziert wurden.
John Sinclar, der in den 60er und 70er Jahren Konzerte für Sun Ra buchte, erinnerte sich 2017 im Rolling Stone:
“Zunächst einmal waren etwa 12 bis 20 Personen im Arkestra und jeder war in ein einzigartiges Gewand gekleidet. Bunt. Afrikanisch beeinflusst. Weltall beeinflusst. Sie hatten Kopfbedeckungen. Einige bemalten ihre Gesichter. Als sie herauskamen, war es beeindruckend. Sie waren einzigartig und anders. Und dann stellte sich auch noch heraus, dass sie alle umwerfende Instrumentalisten waren. Sie waren ein großartiges musikalisches Ensemble, mit perfekt verteilten Rollen. Und dann war da noch Sun Ra, der König dieses Reiches, an seinem Keyboard.“

Arkestra-Performances waren stets mehr als reine Musikdarbietungen. Sie waren Theater, Poesievortrag, Tanz, Light-Show, Film, Philosophie und Humor. Denn was mitunter befremdlich, exzentrisch und abgehoben erscheint, soll durchaus auch amüsieren. So war Sun Ra der Meinung, dass Avantgarde-Musiker*innen sich meist viel zu ernst nehmen würden und wollte mit dem Auftreten des Arkestras dem etwas entgegensetzen.
In seinem Gedicht “I am the Instrument” von 1991 schrieb Ra: “Ich bin ein Instrument. Aber auch der Mensch ist ein Instrument. Die Menschen sind ein Instrument.”
Dementsprechend wurde das Konzertpublikum während der Performance selbst zu einem Instrument, zum Teil der Performance. Dies widerspiegelte sich auch in Sun Ras Konzept der “Vibration of the Day”. Die Vibrationen des Tages bestimmten die Wahl der Kompositionen und beeinflussten das Spiel und die Improvisation. Die Vibrationen selbst waren natürlich auch vom Publikum abhängig: Ein Konzept, das sich der exakten Reproduktion der Musik entgegenstellte und sie unberechenbar, unvorhersehbar machte. Die Musik und ihre Variationen waren also abhängig von der Besetzung, den Vibrationen und dem Publikum selbst.

YouTube video

Doch auch abseits der Bühne war das Arkestra eine eigene Gemeinschaft. Die Musiker*innen lebten gemeinsam in einer Kommune im New Yorker East Village sowie später in einem Reihenhaus in Germantown, Philadelphia, das sie das “Saturn Haus” tauften. Mit “The Paraoh’s Den” gab es sogar einen eigenen Laden, den der Saxophonist und Manager Danny Thompson führte. Wenn das Geld knapp wurde und das Arkestra sich kaum Essen leisten konnte, übernahm Ra selbst das Kochen und bereite seinen sogenannten Mond-Eintopf zu, der – genau wie die Musik – meist improvisiert wurde. Lediglich die Zutaten waren stets dieselben, wie auch die Instrumente eines Orchesters eine grobe Richtung vorgeben.
Auch die Filmleinwand eroberte Ra. 1974 erschien mit “Space is the Place” von Regisseur John Coney ein Blaxploitation-SciFi-Musikfilm, der Sun Ras Wiederankunft auf der Erde begleitete, nachdem er einige Jahre im All verschollen war. Entstanden war das Drehbuch in Anlehnung an das gleichnamige Konzeptalbum von 1972.

Sun Ra und sein Arkestra waren im besten Sinne interdisziplinär. Seine Philosophie drang in nahezu alle Lebensbereiche vor, selbst dem Essen. Kunst und Leben wurden beim Arkestra untrennbar zu einem großen Ganzen.
Unzählige Auftritte absolvierte das Sun Ra Arkestra bis zu Sun Ras Tod 1993. Dazu kamen über 100 Albenaufnahmen. Noch heute kommen Neu- und Wiederveröffentlichungen und ein stetig wachsendes Publikum hinzu, dass Sun Ra erst jetzt entdeckt.

Sein Erbe lebt weiter.
Zum einen im Arkestra selbst, das seit dem Ableben Sun Ras vom Saxophonisten Marshall Allen, der seit 1958 im Sun Ra Arkestra spielt, weitergeführt wird und zum anderen in den Werken anderer Künstler. Im Raumschiff mit dem George Clintons Parliament auf der Bühne landeten, um den P-Funk unter die Menschheit zu bringen. Auf der “Nuclear War”-EP von Yo La Tengo, die 2003 gleich mehrere Versionen des Sun-Ra-Songs einspielten. Oder bei Lady Gaga, die 2013 in ihrem Song “Venus” Sun Ra sampelte. Oder auch in den Alben und Filmen von Janelle Monáe, die zuletzt mit “Dirty Computer” (2018) eine eigene afrofuturistische Vision verbreitete. Aber eben auch in Mainstream-Filmen wie “Black Panther”, die panafrikanische Kultur, Vergangenheit und Science-Fiction zu einem großen Neuen vermischten.

Es scheint so, als erlebe Sun Ra Jahrzehnte nach seinem Tod einen zweiten Frühling: Immer wieder entdeckten nachfolgende Generationen Ras Werk. Vielleicht einfach, weil er seiner Zeit voraus war. So als ob er aus einer uns noch unbekannten Zukunft kam.